Die Debatten um Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland sind paradox. Nicht nur, dass die neueste Regelung für die deutsche Grenze laut Olaf Scholz wahrscheinlich „fünf Menschen pro Tag“ betrifft. Die Zahl derer, die in Deutschland Asyl beantragen ist laut Zahlen des BamF massiv rückläufig. Mit den bisherigen Pronosen wird die Zahl derjenigen, die in Deutschland Schutz suchen auf ein Niveau von vor 2014 zurückfallen bzw. auf ein Niveau der Mitte-Neunziger Jahre. Und verglichen mit der Rekordzahl von 745.545 aus dem Jahr 2016, was theoretisch eine durchschittliche Zuwanderung von ca. 60.000 im Monat bedeutete, scheinen die diesjährigen Zahlen marginal, wie auch die Bundesregierung meldet:
Dass diese Reduktion durch die Schließung diverser Routen, erfolgreiche Rückführungsprogramme oder Abkommen mit anderen Staaten (Türkei, Lybien) zustande gekommen ist, kann sicher nicht bestritten werden. Sicher ist aber auch, dass die Situation – auch wenn die Außenstellen des BaMF noch immer wegen Personalnot überfordert scheinen – im Großen und Ganzen momentan im Griff ist. Die Flüchtlingskrise ist seit September 2016 vorbei.
Von einer anderen Seite beleuchtet, hat aber selbst die hohe Zuwanderung 2015 / 2016 nur sehr wenige Deutsche direkt betroffen. Sicher gab es reale Verbrechen, Betrug und nicht zuletzt die Kölner Domplatte, die nicht hinnehmbare Einzelschicksale geschaffen hat. Im Allgemeinen kann jedoch gesagt werden, dass sowohl die Arbeitslosenzahlen, als auch die Zahl begangener Straftaten insgesamt zurückgegangen sind. Alle Befürchtungen bezüglich eines Chaos in Wirtschafts- und Sicherheitsaspekten wurden Lügen gestraft, der Supergau blieb aus und der Satz „Wir schaffen das“ ist Wahrheit geworden: Deutschland, die Zivilgesellschaft allen voran, aber auch nach einigen Startschwierigkeiten die Bürokratie, hat großartige Arbeit geleistet.
Dennoch bleibt das Thema Flüchtlinge präsent wie kein anderes Thema in den Medien, Angst- und Spannungsgeladen und immer und immer wieder für eine Schlagzeile gut. Selbst Entwicklungsmisnister Müller findet die Flüchtlingsdebatte mittlerweile übertrieben. Zeit für eine kurze Spurensuche.
Rechtspopulismus, Strukturschwäche und Ausländer
Eine recht frühe Erkenntnis besteht aus dem Zusammenhang zwischen Abwesenheit von Ausländern und dem Erfolg Rechtspopulistischer Ansätze. Was schon seit mehreren Jahren im ALBUS Datensatz nachzuprüfen ist, wird mit dem Aufstieg der Afd besonders deutlich: Rechtspopulististisch wählt, wer keinen Kontakt zu Ausländern hat.
Andere Erklärungen müssen also her. Einerseits die Angst vor der Zukunft. Das pessimistische Zukunftsbild gerade von Ostdeutschen wurde auch im Sachsenspiegel 2017 besonders deutlich. Anders als frühere Generationen glauben die Bürger nicht mehr, dass es ihre Kinder besser haben werden als sie selbst – können sich aber nicht erklären, woran das liegen könnte. Anscheinend soll mit einer Ausländerskepsis bis – feindlichkeit glücksspielartig ausgeschlossen werden, dass einmal eine Konkurrenzsituation mit Migranten geschaffen wird, bei der man selbst oder der Nachwuchs den Kürzeren ziehen könnte.
Einen zweiten Faktor sollte man jedoch nicht vernachlässigen, wenn die beiden Landkarten oben vergleicht. Es handelt sich auch um strukturschwache Regionen, in denen die AfD gewählt wird. Logisch, denn eine florierende Wirtschaft zieht auch ausländische Arbeiter und Fachkräfte an, wo die Wirtschaft auf der anderen Seite nicht floriert gibt es auch keinen Grund hinzuziehen.
Das gute Leben funktionert mit Konsum
Im Kontext der Gesamtrepublik spielt das eine entscheidende Rolle. Schließlich leben wir in einer Zeit starker Konsumorientierung. Einkommen und Lebensstandart bestimmen üben den tatsächlichen oder gefühlten Grad an Anerkennung, den die Menschen erfahren. Die Werbung suggeriert seit Jahrzehnten mit immer innovativeren und ausgefeilteren Konzepten, dass diesen Leben nur mit Konsum lebenswert sei und wir täglich tausende von Möglichkeiten uns auszuleben verpassen. Sie suggeriert weiterhin, dass dieses gute Leben auch für alle einfach zu erlangen sei. Abgehängt zu sein ist ein inneres Gefühl nicht dazuzugehören, wenn der Rest der Republik die größten Parties feiert man selbst aber keine Möglichkeiten findet dazuzugehören. Das Phänomen des „Fear of Missing out“ (fomo) ist keine kleine Bagatelle, die einen hin und wieder privat belastet, es ist ein Lebensgefühl, ein Handycap, eine innere Bremse, die zerstörtes Selbstwertgefühl und Depressionen hinterlässt.
Das unglückliche bei der ganzen Sache: Die Grundsicherung, der Mindeslohn oder auch generell Verhältnisse in prekärer Arbeit reichen, um den täglichen Grundbedarf an Lebensmittel, Kleidung und Wohnung zu decken. Theoretisch muss niemand in diesem Land hungern oder frieren. Aber es reicht nicht, um das Leben zu führen, von dem man glaubt das man es führen sollte, das einem die Werbeindustrie vorgaukelt, oder die Freunde auf Facebook mit ihren Urlaubsreisen, neusten technischen Geräten, oder auch die Lyfestyle Magazine mit ihren offenen Beziehungen und der angeblichen ständigen Verfügbarkeit von Sex. Das Gefühl von Außen-Vor-Sein und konservativem Ekel vor der Konsumgesellschaft hinterlässt Frust, Wut und Unverständnis.
Die neue Rechte hat neue Anerkennungsstrukturen geschaffen
In diesem Gefühl hat seit jeher Rechtspopulismus seinen fruchtbarsten Nährboden gefunden. Mit dem Anbieten einfacher Erklärungsmuster, aber auch mit der Schaffung einer virtuellen Gemeinschaft, für deren Solidarität man nichts weiter machen muss als zur rechten Zeit am rechten Ort von den richtigen Menschen geboren worden zu sein, wird gegenseitige Anerkennung greifbar, auch für die Peripherie der Republik, die, zukunftsverängstigt und mit minderem Selbstwertgefühl, sich längst
von der Politik abgewandt hat. Pegida aber auch gerade die AfD haben Anerkennungsstrukturen geschaffen, die nicht nur risikoarm sind, sondern auch extrem wenig Eigeninvestition bedürfen. Ein paar Bier auf einer Demo, ein paar Hasskommentare im Netz, radikale Aussagen, die Stärke demonstrieren sollen, Deutschtümelei und familiäre Prüderie und letztlich Verschwörungsthesen und Unterstellungen, die keine Beweise benötigen – fertig ist der Cocktail für ein besseres Gefühl, für ein Dazuzugehören, für die Gewissheit nicht allein zu sein mit seinem Drang und Schmerz. Die Attraktivität dieser neuen Bewegungen besteht nicht in ihrer Radikalität – sondern in der Banalität.
Dass der sächsische Wirtschaftsminsiter und neuer Ostbeauftragte der Bundesregierung, Martin Dulig, permanent von der „Anerkennung der Lebensleistung der Ostdeutschen“ spricht ist strategisch nachvollziehbar und sicher auch richtig. Es ist aber zu leicht zu durchschauen und übersieht einen wichtigen Baustein: Die Menschen wollen diese Anerkennung nicht geschenkt. Sie wollen selbst etwas bewegen und gehen auf die Straße, ins Netz und in die Wahllokale mit diesem inneren Verlangen – und sie nutzen das Angebot, das momentan am vielversprechendsten ist und wenig Aufwand verlangt: Die neue Rechte.
Eine konsumkritische Haltung ist dabei nicht unbedingt verdammenswert, auch der Wachstumszwangs des Kapitalismus, der Eskalationslogik und ihre Auswirkungen auf die Psyche des Menschen, wird von renommierten linken Wissenschaftlern wie Hartmut Rosa deutlich angesprochen. Problematisch wird diese Haltung dann, wenn sie die Regeln des Miteinander verletzt, sich über gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzt und andersartige Meinungen diskreditiert und diskriminiert werden. Und hier genau zeit sich das Fingerspitzengefühl und die Geduld, die die Gesellschaft heute braucht. Diskriminierung anderer Meinungen ist selbstverständlich in dieser Form nicht hinnehmbar. Wenn es aber stimmt, dass die neue Rechte aus einem tiefen Gefühl des Frustes entstanden ist, dann bedeutet dies, dass je mehr Frust ihnen zugesetzt wird, desto radikaler werden ihre Ansichten, desto radikaler auch die Abschottung in der eigenen Blase. Eine Stadt mit FCK Pegida Aufklebern zuzukleistern und bei jeder unbequemen Aussage von Rechts „Nazis raus“ zu rufen wird also zu keiner Lösung führen, aber sicherlich zu einer weiteren Verhärtung der Fronten – eine Dynamik, die man in Dresden die letzten Jahre beobachten konnte. Was können die Gegner der neuen Rechten also tun?
Das Linke Spektum folgt der selben Anerkennungslogik wie die AfD
Hier kommt die Rolle des linken Spektrums, insbesondere in den Jugendbewegugen, aber auch die etablierten linken Gruppen und Parteien ins Spiel. Der „Kampf gegen Rechts“ ist mittlerweile ein Selbstzweck geworden, eine Möglichkeit sich zu profilieren und Veranstaltungen, Kommentarspalten und Freundeslisten zu füllen. Dabei folgt diese Betätigung der selben Logik wie die Annerkennungsstrukturen, die von Rechtspopulisten genutzt werden: Sie sind risikoarm und bedürfen kaum Eigeninvestition. Demos gegen Rechts sind schnell organisiert und genehmigt, die Sittlichkeit scheint eindeutig auf der Seite der Veranstalter und die Wichtigkeit – auch als leerer Signifikant – der „Kante gegen Rechts“, die gezeigt werden soll, wird stets betont. Ansätze, Lösungen und eigene Themen fehlen aber viel zu häufig und genau hier liegt die Crux: Wo es keine Inhalte gibt, gibt es auch keine Kante und die Aktionen sind bestenfalls selbstreferentiell und dienen um die Hackordnung innerhalb der linken Gruppen und Parteien festzulegen.
Diese Mechanismen sind bequem. Laut verschiedenen Studien (unter anderem Giugni und Yamasaki (2008)) haben verschiedene gesellschaftliche Interessengruppen unterschiedlich hohe Kosten, um einen Erfolg in der Politik zu erreichen. In manchen Themenfeldern geht dies einfacher und schneller, in anderen müssen wesentlich mehr Ressourcen mobilisiert werden. Insgesamt kristallisiert sich eine deutliche Reihenfolge aus: Am schnellsten und risikoärmsten können in Fragen wie Gender und Feminismus Erfolge erzielt werden, gefolgt von Fragen des Umwelt- und Naturschutzes. Darauf folgen Arbeitnehmerverbände, Menschenrechtsaktivisten und ganz zum Schluss – und damit die wohl sozial unlukrativsten und stressigsten Engagements – das Engagement der Friedensbewegung mit ihren Abrüstungsbemühungen.
Deutschlands Probleme liegen in Feldern, die weh tun
Dass sich das linke Spektrum gerne auf die annerkennungstechnisch lukrativeren Politikfelder Umwelt, Homo-Rechte, Queer-Rechte, Feminismus, Kampf gegen Rechts und Anitsemitismus zurückzieht, ist schon seit mehreren Jahren zu beobachten. Dabei wird auch Kritik an diesem Vorgehen oft diffamiert. Den Kommentar von Sarah Wagenknecht zum Beispiel, dass die Homoehe durchaus ein Durchbruch sei, aber die Präsenz in Agenda und Medien von den eigentlich wichtigen linken Themen ablenke und diese verschütte, bedachten die Jusos Sachsen lediglich mit dem Vorwurf der „Homophobie“.
Dabei sind in den Feldern wirtschaftliche Umverteilung, Menschenrechte und Abrüstung tatsächlich viele Dinge im Argen. Bernie Sanders stellt fest „Die Milliardäre verprassen ihren Luxus, während tausende Kinder sterben“ und spielt dabei etwas reißerisch auf eine immer weiter wachsende Verteilung von Vermögen an, die schon Thomas Piketty feststellte und die dringend nach neuen Antworten bedarf. Prekäre Arbeit, Leiharbeit, fehlende Anerkennung – moralisch und finanziell – für Pflegeberufe und Pädagogen sind weitere Probleme, die eigentlich von links angesprochen und gelöst werden könnten, die in jedem Fall aber wesentlich zentraler auf die Agenda und beworben gehören als die weichen Themen, auf die sich das linke Spektrum gerade eingeschossen hat. Dabei kann durchaus die wirtschaftliche Systemfrage gestellt werden. Bedingungslose Grundeinkommen sind ein Anfang, die moderne Ökonomie birgt noch weitere Ideen, die nur auf den Mut warten, offen ausgesprochen zu werden.
Die Frage nach Menschenrechten und Folter führt einen unweigerlich zu der Frage nach Fluchtursachen aus dem nahen und mittleren Osten, in denen folternde Staaten noch heute moralische und finanzielle Unterstützung europäischer Regierungen, auch Deutschlands, erhalten. Damit sind auch Fragen von Waffenexporten verknüpft, die noch immer direkt oder indirekt in Krisengebiete gelangen.